Leidenschaft! Das Ziel aller Dinge? Schaut man in Zeitschriften oder blickt nach Hollywood und Bollywood, dann scheint das so zu sein. Richtet man das Augenmerk auf christliche Kreise, besonders evangelikal oder charismatisch ausgerichtete, so wird Leidenschaft für Gott ebenso stark betont. Das Feuer muss in dir brennen! Seit jeher stehe ich dem aus verschiedenen Gründen etwas kritisch gegenüber. Doch kürzlich bin ich über einen sehr interessanten Aspekt gestolpert.

Eine meiner Haupt-Hypothesen in meiner Dissertation ist es, dass zwischenmenschliche, nahe Beziehungen viele Parallelen zum Verhältnis von Gott und Mensch haben. Aus diesem Grund setze ich mich mit Sozialpsychologie auseinander. In einem Kapitel zu „Sexual Passion, Intimacy, and Gender“ von Kathleen D. Vohs und Roy F. Baumeister im Handbook of Closeness and Intimacy (Debra J. Mashek, Arthur Aron) bin ich auf etwas äusserst Interessantes gestossen: Das Verhältnis von Leidenschaft und Intimität. 

Die Autoren definieren Leidenschaft, verkürzt ausgedrückt, als sehr starkes Gefühl, ein Angezogen-sein gegenüber einer anderen Person. Dieses starke Gefühl muss von der anderen Person nicht unbedingt erwidert werden. Intimität hingegen erfordere gegenseitiges Verständnis, dass man sich in der Tiefe kennt, und hat normalerweise mit Kommunikation zu tun. Auch Intimität beinhaltet meist positive Gefühle. Und nun wird es interessant. Wie entsteht Leidenschaft? Aufgrund verschiedener Studien plädieren die Autoren dafür, dass Leidenschaft durch einen sprunghaften Anstieg von Intimität entsteht. Lass es mich etwas praktischer erklären:

Wenn ein Männlein und ein Weiblein frisch Interesse aneinander haben, dann lernen sie in der Anfangszeit sehr viel Neues voneinander. Alles ist frisch, speziell, spannend. Intimität (gegenseitiges Kennen) nimmt sprunghaft zu. Als Folge davon ist die Leidenschaft auch sehr hoch. Man ist verliebt, verschossen, es schmettert und lingt… So weit so gut.

Nun geschieht aber etwas. Dieses Etwas ist völlig normal. Je länger man zusammen ist und je besser man sich kennt, desto weniger sprunghaft sind diese Intimitäts-Boosts. Die Intimität ist zwar im Laufe der Zeit (hoffentlich) sehr viel höher als zu Beginn der Beziehung, doch sie steigt nicht mehr gleich steil an. Was ist die natürliche Folge? Weniger sprunghafter Anstieg an Intimität führt zu einer Abnahme der Leidenschaft. Das ist ganz normal.

Diese Graphik zeigt vereinfacht den normalen Verlauf von Leidenschaft im Verhältnis zu Intimität. [eigene Darstellung]

Wenn nun Leidenschaft das Ziel ist, dann ist das tragisch. Denn Leidenschaft kann nicht einfach so produziert werden. Das streben nach Leidenschaft wird zur kompletten Überforderung. Leidenschaft ist eine Folge. Wenn hingegen Intimität das Ziel ist, dann muss sich das nicht zwingend oder ständig in feurig-brennender Leidenschaft zeigen, obwohl die Beziehung durchaus „gesund“ ist. Fehlende Leidenschaft ist kein Zeichen, dass etwas mit der Intimität nicht stimmt. Es ist nur ein Zeichen, dass die Intimität nicht mehr ganz so intensiv und sprunghaft zunimmt.
Nun muss man sich aber durchaus nicht mit mangelnder Leidenschaft zufrieden geben. Statt bei der Leidenschaft, sollte man einfach bei der Intimität ansetzen. Aber wie? In einem anderen Kapitel desselben Buches wird von Studien gesprochen, die zeigen, dass neue Situationen im Leben einer Beziehung, Intimität sprunghaft ansteigen lassen. Das Prinzip ist klar: Neue Situationen heisst, ich lerne neue Seiten am Partner kennen. Dies kann ein Tanzkurs sein. Noch stärker und vor allem wiederkehrender gerät man in neue Situationen, wenn man ein gemeinsames Ziel nebst der eigenen Paarbeziehung hat. Ein Projekt, eine Aufgabe. Dies schafft herausfordernde Situationen, die dazu führen, dass man sich immer wieder neu kennen lernt, deshalb die Intimität stark zunimmt und damit auch die Leidenschaft neu entfacht.

Soweit die Beziehungstipps für alle Paare da draussen. Was aber hat das mit der Gottesbeziehung, der Leidenschaft im Glauben zu tun? Sehr viel! Das Prinzip ist genau dasselbe. Wir müssen keine vergeistlichenden Turnübungen machen. Es ist normal, dass die Leidenschaft mit der Zeit abnimmt, obwohl ich Gott immer besser kennen lerne und die Intimität zugenommen hat. Es ist normal, dass nach Konferenzen und Camps oder sonst intensiven geistlichen Zeiten die Leidenschaft hoch ist, aber ebenso schnell auch wieder verfliegt. Diese Zeiten sind ein Intimitäts-Konzentrat. Man könnte es so zusammenfassen: Nicht Leidenschaft ist das Ziel, sondern Intimität.
Das beste Mittel, dass Intimität und Leidenschaft stetig zunimmt scheint mir schlicht und einfach folgendes: Den Auftrag Gottes in dieser Welt zu leben. In Partnerschaft mit Gott den Himmel auf die Erde zu bringen, schafft permanent neue Situationen, in denen ich Gottes Nähe suche, ihn neu kennen lerne und damit neue Leidenschaft für ihn entfacht wird.

For the English Version of this article click here