Emil Brunner. Schon mal etwas von diesem Zürcher Theologen gehört? Nicht? Damit bist du nicht alleine. Sogar in Theologenkreisen fristet Herr Brunner ein Dasein als Randnotiz zu Karl Barth. Wieso ist das so? Zu seiner Zeit war er ein Theologen-Gigant mit enormem Einfluss in der Schweiz, im deutschsprachigen Europa und als einer der ersten Schweizer auch im englischsprachigen Raum, sowie weltweit. Zeitweise überflügelte er in seinem Einfluss sogar Barth. Trotzdem habe auch ich selbst ihn in der Themen- und Theologen-Findung meiner Disseration mehrfach ignoriert und übergangen. Weshalb spricht man nicht mehr von Emil Brunner? Meiner Meinung nach sollte Brunner ein Comeback feiern. Damit bin ich nicht allein. Diverse Theologen, unter anderem Alister McGrath, finden,  dass Brunner wie ein Phoenix aus der Theologen-Asche aufsteigen sollte.

…the time has come to reconsider his significance for the challenges facing both the academic discipline of theology and the needs of the churches in the twenty­first century.

Alister McGrath (in: Emil Brunner. A reappraisal.)

Brunner ist out

Nach Brunners Tod (1966) war das Interesse an ihm noch gross. Dissertationen wurden über ihn geschrieben, doch in den 70ern versiegte der Strom des Interesses und danach verschwand er fast ganz von der Bildfläche. Wie bereits erwähnt wurde er zusehends in Fussnoten zu Karl Barth verbannt. Brunner weckte höchstens noch Interesse im Zusammenhang mit Barths „NEIN!“. Die 1973 gegründete Emil Brunner Stiftung wurde 2011 aufgelöst. In einem Gespräch mit einem ehemaligen Pfarrer im Kanton Zürich, Theologen und Brunner-Kenner habe ich erfahren, dass die Reformierte Kirche vom Kanton Zürich den Eindruck erweckt, dass sie sich Brunners schämt, obwohl sie ihm unglaublich viel zu verdanken hat. Sogar der Chef-Biograph von Brunner, Frank Jehle, betone gerne, dass er eigentlich Barth-Anhänger ist. Darüber hinaus hatte er erwähnt, dass es schon fast zufällig zur Gedenktagung zum 50. Todesjahrs von Brunner gekommen sei. Unter anderem hatte sich Alister McGrath dafür stark gemacht. Ein Engländer. Was sollen wir zu all dem sagen?

Wieso ist Brunner out?

Man kann diese Frage mit praktischen Gründen beantworten: Er wurde von Barth übertrumpft. Ein Gigant wurde von einem Koloss verdrängt (Grenz & Olson). Dies ist sicherlich wahr, meiner Meinung nach hingegen nicht der einzige Grund. Ich behaupte (und werde das in meiner Diss noch klarer darlegen), dass es vor allem auch an Brunners Theologie liegt. Dazu zwei Hypothesen:

Brunner wird bewusst ignoriert

Schon zu Lebzeiten war Brunner den Konservativen zu wenig konservativ und den Liberalen zu wenig liberal. Er nahm eine Stellung in der Mitte ein und war dadurch nicht richtig fassbar und nicht einfach in eine Schublade zu stecken. Aber das ist nur ein Punkt. Ich glaube, dass Brunner in der akademischen Theologie ignoriert wird, weil sein theologisches Leitmotiv der „personalen Korrespondenz“ zu konkret, zu praktisch ist, zu lebensverändernde Konsequenzen hat und dabei zu wenig akademisch abstrakt daherkommt. Brunner betrieb Theologie immer mit der Kirche und dem konkreten Leben als Christ im Fokus. Vielleicht ist das für einige zu konkret, die eine Distanz zum „Objekt“ (hier würden Brunner alle Haare zu Berge stehen…!) der theologischen Betrachtung wahren wollen. Eine steile Behauptung – ich weiss. Meiner Meinung nach gibt es noch eine zweite Erklärung:

Brunner wurde und wird nicht verstanden

An verschiedenen Stellen habe ich gehört und gelesen, dass Brunners Theologie einfach nicht besonders inspiriert und inspirierend gewesen sei. Zu normal. Ein netter Mittelweg zwischen den Extremen. Aber nicht mehr. Er habe keinen wirklich neuen Beitrag geleistet. Einige streichen zwar Brunners Beziehungsansatz, den er besonders in seinem Buch „Wahrheit als Begegnung“ entwickelt hat, heraus, aber damit hat es sich auch schon. Wer so redet, hat Brunner nicht verstanden. Auch Brunner selbst monierte das oft, dass man ihn nicht verstanden habe (ob zu Recht oder zu Unrecht…). Er meinte unter anderem, dass sogar seine Studenten ihn nicht verstehen würden.

Ein Beispiel: Ich habe letzthin ein Buch über die Theologie im 20. Jahrhundert gelesen (Grenz und Olson, 20th-Century Theology). Brunner kommt darin auch vor. Sehr knapp. Die Autoren erwähnen seinen Beziehungsansatz als bemerkenswert. Das war es auch schon. Sonst kritisieren sie sein Bibelverständnis (meiner Meinung nach zu Unrecht) und gehen dann weiter, dass er schon wichtig gewesen sei, mehr Beachtung verdienen würde, aber letztlich keinen radikal-originellen Beitrag zur Theologie geleistet hätte. Er habe vor allem klassisch reformatorische Lehre neu formuliert. So weit. Interessanterweise haben die Autoren die ganze Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts unter das Thema der Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz gestellt und beklagen am Schluss, dass es immer eine Pendelbewegung gewesen sei und dass es einen neuen Ansatz brauche, der beides gleichermassen im Blick behält. Aus irgendeinem Grund haben sie nicht gemerkt, dass Brunner genau das getan hat. Viele der Ansätze, die sie bei anderen Theologen begrüssen, hat Brunner in gleicher Weise, wenn nicht sogar besser herausgearbeitet. Ich meine, dass sie – wie die Meisten – nicht erkannt haben wie zentral und radikal Brunners Beziehungsansatz ist und dass er das Potential hat, viele der Schwierigkeiten in der Theologie zu lösen.

Ein Hoch auf Brunner!

Um es nochmals auf den Punkt zu bringen: Brunner’s Leitmotiv der „personalen Korrespondenz“ würde ein radikales Umdenken in vielen Bereichen zur Folge haben. Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen (zitiert in Jehle, Emil Brunner). Er habe

gemerkt, dass sich da so etwas wie ein Durchbruch vollzog, der ausgewertet, eine Umwälzung des ganzen theologischen und kirchlichen Betriebes nach sich ziehen müsste.

Das sehe ich genauso. Deshalb widme ich meine Arbeit diesem Thema. Deshalb denke ich, dass Emil Brunner und vor allem sein theologisches Leitmotiv wieder ganz neu Beachtung finden und weiter darauf aufgebaut werden müsste.

Nachtrag: Das Bild zu diesem Beitrag habe ich nachträglich hinzugefügt. Es stammt aus der Aula der Universität Zürich. Dort gibt es, neben Brunner, nur noch sieben andere „Köpfe“. Wer weiss, vielleicht „leckt“ Die Aula irgendwann und die lebendige Erinnerung an Brunner und sein Werk findet wieder mehr Beachtung…