Eine Frage, die mich seit Jahren beschäftigt, dreht sich um das Wort „christlich“. Wenn ich ehrlich bin würde ich dieses Wort gerne aus unserem Wortschatz verbannen. Was bedeutet es schon? Christliches Verhalten, christliche Kunst, christliche Musik, christliches Buch, christliche Gedanken, christliche Schule, christlicher Gemüsegarten… Egal was, allem kann man einen „christlichen“ Anstrich verpassen – doch bleibt es ganz oft inhaltsleer. Man will damit ausdrücken: es hat irgendwas mit dem Christsein oder dem christlichen Glauben zu tun. Was mich daran nervt ist, dass es ganz oft zwar christlich getüncht ist (ja, die Anlehnung an Matthäus 23 ist bewusst), aber wahrhaft nichts mit der Absicht und der Person von Jesus Christus zu tun hat. Im Gegenteil, wenn ich da an gewisse „christliche“ Politik, „christlichen“ Merchandise und „christliche“ Bücher denke… Schon lange habe ich im Hinterkopf eine Predigtserie, um mal so richtig auf den Putz zu hauen, Dampf abzulassen und diesen Missbrauch zu „bashen“. Nur, wie „christlich“ wäre das dann?

In meiner Auseinandersetzung mit dem Theologen Emil Brunner bin ich über eines seiner Prinzipien gestolpert, das indirekt mit dieser Thematik zu tun hat und mir geholfen hat eine etwas differenziertere Sicht zu bekommen. Brunner nennt es das Gesetz der Beziehungsnähe.1 Folgende Graphik veranschaulicht sein Denken:

Im Zentrum ist Christus als Selbst-Mitteilung und ultimative Offenbarung von Gott. Das Evangelium. Damit logischerweise aufs engste Verknüpft das unmittelbare Verhältnis, die Beziehung von Gott und Mensch. Alles andere ist relativ zu diesem Zentrum und entsprechend näher oder weiter davon entfernt. Brunner sagt es folgendermassen:

Je näher ein Sachgebiet bei jenem Zentrum der Existenz liegt, wo es um das Ganze, das heißt um das Gottesverhältnis und das Sein der Person geht, desto deutlicher unterscheidet sich die christliche Sicht von jeder anderen, während der Gegensatz christlich-nichtchristlich um so undeutlicher wird, je weiter der Erkenntnisgegenstand vom Personenzentrum entfernt ist.2

Obwohl Brunners Zitat im unmittelbaren Kontext der Frage nach einer christlichen Philosophie steht, gibt es uns ein Prinzip, ein „Gesetz“, um uns zu orientieren. Brunner zeigt anhand der Mathematik, dass es dort wohl kaum einen Unterschied macht, ob es christliche oder unchristliche Mathematik ist. Die Psychologie hingegen ist sehr viel Näher am Personenzentrum des Menschen und eine christliche Sicht hat deutlich mehr Einfluss. Sofort muss aber betont werden dass christlich definiert ist als in wie fern es von Gottes Selbst-Offenbarung in Jesus Christus, als Gott-für-uns-Menschen, ausgeht. Es gibt also Themen und Bereiche wo es sich lohnt, sogar Not tut für uns Christen, Einfluss zu nehmen, zu kämpfen. Je näher beim Zentrum desto stärker. Andere Bereiche liegen weiter vom Zentrum entfernt (auch sogenannt „biblische“ Themen) und brauchen deshalb auch weniger spezifisch christlichen Einfluss. Alles ist also relativ zum Zentrum.

Wenn wir also Musik machen als Christen, dann ist das noch keine christliche Musik. Wenn wir Christen als Bäcker haben, dann backen die keine christlichen Brötchen; obwohl sie als Christen und Bäcker hoffentlich einen positiven Unterschied machen. Wenn wir als Christen Bücher schreiben, dann lohnt sich die Frage, ob diese Bücher wirklich christlich sind oder vielmehr z.B. eine interessante Adaption von Laien-Psychologie als Lebenshilfe darstellen. Wenn wir als Christen Gemüse anpflanzen, dann kann das nicht auf eine spezifisch christliche Art und Weise geschehen (und es müssen darüber auch keine „christlichen“ Bücher verfasst werden), obwohl wir es womöglich in einer Art und Weise tun, die unserem Schöpfungsauftrag als Menschen in spezieller Weise entspricht. Emil Brunner hat Recht: Wenn wir diese Unterscheidung (Relation) beachten, kann viel Verwirrung und, ich möchte hinzufügen, die Gefahr einer kontraproduktiven, christlichen Subkultur vermieden werden.

Footnotes

  1. Z.B. Brunner, Wahrheit als Begegnung, 134–36, Siehe auch David Cairns, ‘Brunner’s Conception of Man as Responsive, Responsible Being’, in Kegley, 75–98, 77.
  2. Brunner, Wahrheit als Begegnung, 58.